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Warum ich einmal im Jahr ins Schweigen gehe

Was passiert, wenn nichts passiert?

Folgende Tagebuchnotizen von Melanie Wolfers sind ursprünglich in der BRIGITTE  2019 (16)  veröffentlicht worden.

Ich schließe die Tür auf. Hier also werde ich die nächsten zehn Tage im Schweigen verbringen: ein Meditationsraum, eine Küche, ein Zimmer. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Ich habe alles, was ich brauche. Zuhause geblieben sind: Laptop, Handy, Bücher. Unwillkürlich atme ich tief durch nach dem Übermaß von Arbeit und Anstrengung in den letzten Wochen. Jährlich mache ich “Exerzitien der Stille”. Und schreibe Tagebuch…

 

Tag 1: Einen Gang runterschalten

Wie sehen meine Tage hier aus? Vier Mal am Tag meditiere ich eine Stunde. Ich esse im Schweigen, feiere gemeinsam mit anderen Gottesdienst und gehe in die Natur. Einmal am Tag unterbreche ich das durchgehende Schweigen für ein Gespräch. Dies hilft mir, dass ich mich nicht in Gedankenkarussells verliere, sondern den Weg in die Stille finde. Der klare Rhythmus wird mich unterstützen, innerlich zur Ruhe zu finden.

Vieles aus den vergangenen Wochen beschäftigt mich: Ich freue mich an gelungenen Veranstaltungen; mich wurmt eine Auseinandersetzung; ich sorge mich um einen Freund. Lieber wäre ich schon gesammelter, doch mein innerer Motor kann keine Vollbremsung machen, sondern muss ausrollen können. Ähnlich, wie wenn man vom Gas runtergeht und das Fahrzeug noch seine Zeit braucht, bis es still steht.

Tag 2: Flanieren

Langsam und ziellos wandere ich durch den lichten Buchenwald. Die Blätter werfen ihr Spiel mit Licht und Schatten auf das Grau der hohen Stämme. Ich lasse mich von Neugier und Vergnügen leiten. Nehme mir Zeit und schaue dem Specht-Paar zu, wie es seine piepsenden Jungen füttert. Betrachte eine Blüte. Die Eidechse, die ein Sonnenbad nimmt.

Angesichts von so viel Schönheit gewinne ich Abstand von meinen Gedanken, Ideen und Sorgen. Ich bin plötzlich Teil der mich umgebenden Natur. Und ahne: Ich bin im Großen und Ganzen geborgen.

Tag 3: Dankbar werden

Mir geht neu auf, wie reich ich beschenkt bin. Wie viel ich meiner Familie verdanke und welche Gaben mir geschenkt sind: Gesundheit, Freundschaften, meine Gemeinschaft, in der ich lebe, Talente, Aufgaben… ich bin sehr dankbar.

Tag 4: Nichts und niemand will etwas von mir – nicht einmal ich selbst

Stille befreit. Die Stimmen, die etwas von mir wollen, verstummen: äußere Ansprüche und innere To-do-Listen, Perfektionismus und Leistungsdruck. In der Stille erfahre ich, was es bedeutet, nichts zu tun. Sondern nur zu sein. Ich spüre: „Ich kann einfach da sein, ohne etwas erreichen oder machen zu müssen. Nichts und niemand will etwas von mir – nicht einmal ich selbst.“

Dies erlebe ich auch als ein spirituelles Geschehen: Ein umfassenderer, göttlicher Grund wird spürbar, der mich und alles von innen her trägt.

In der Stille erfahre ich, was es bedeutet, nichts zu tun. Sondern nur zu sein.

Tag 5: Es wird mühsam!

Ich habe weder Lust zum Meditieren noch zum Wandern. Als ob ich hinter Panzerglas sitze, abgeschnitten vom Rest der Welt und von mir selbst. Fühle mich müde und mürbe. Es wird mir alles zu lang. Eine Pizza bei einem Italiener, das wäre es jetzt. Und liebend gerne würde ich einfach mal einen Freund anrufen oder meine Mails lesen.

Aber wäre das die Lösung? – Nein! Aus Erfahrung weiß ich, dass die „Verabredung mit der Stille“ auch in Krisen führt. Denn nun bin ich einer Person direkt ausgeliefert: mir selbst. Wenn das geschäftige Grundrauschen verebbt, taucht auf, wovor ich ansonsten mit kleinen Tricks fliehe: Einsamkeit und Angst, Schuld und Sorge um einen geliebten Menschen.

Tag 6: Es ist zum Verrücktwerden …

„Ich hööööre nichts!“ schreit ein Mädchen im nahegelegenen Garten. Neben ihm steht ein Junge und will ihm etwas sagen, doch das Mädchen hält sich die Ohren zu und ruft laut: „Ich höööööööööööööre nichts!“

Ich muss lachen. Das Kind versucht, durch Lärm zu übertönen, was es nicht hören will – und hält mir damit einen Spiegel vor Augen. Denn auch ich verfahre so, wenn auch mit etwas verfeinerten Abwehrmethoden. C.G. Jung schreibt, dass der Lärm ein Sicherheitsgefühl gibt. „Das, was in Wirklichkeit gefürchtet wird, ist das, was vom eigenen Innern kommen könnte, nämlich all das, was man sich durch Lärm vom Halse gehalten hat.“

In meinen Gebetszeiten plagen mich Gedanken und Gefühle. Wie auf einem Jahrmarkt geht es in mir zu. Zum Verrücktwerden.

Was mir in diesen Augenblicken hilft: Ich versuche, meinen Körper zu spüren. Denn das Wahrnehmen des Körpers holt mich aus dem Gedankenkarussell zurück ins Hier und Jetzt. Und ein Zweites: Ich wähle ein einfaches Wort, um es im Atemrhythmus betend zu wiederholen: „Ich in Dir – Du in mir“. Wenn ich entdecke, dass ich mit meinen Gedanken auf Wanderschaft gehe, bringen mich das Hören auf den Atem und der wie ein Mantra wiederholte Satz zurück in die Gegenwart.

„Die größten Ereignisse – das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.“ (Friedrich Nietzsche)

Tag 7: Das Kind in mir steht auf

In der Mediation nehme ich oft einen Bibeltext zur Hand. Die heutige Geschichte geht mir unter die Haut. Jesus wird zu einem kranken Mädchen gerufen. Als er ankommt, winken die Leute ab, das Mädchen sei bereits tot. Doch Jesus widerspricht: „Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.“ Er fasst es bei der Hand und richtet es auf.

Mir kommen Bilder aus meiner Kindheit: Ich sitze auf unserem Hof und spiele mit Kieselsteinen. Ich lasse mich ins hohe Gras fallen und mein Papa sucht mich. Meine Mutter und ich schauen zu, wie der Mond über der Ostsee aufgeht. Meine Freundin und ich hecken Streiche aus.

Dieses Kind in mir, lebt es noch? Oft musste es eingesperrt werden, weil andere Eigenschaften gefragt waren. In der Schule zählten Noten und Leistung. Ich wurde zielstrebig, kontrolliert und „erwachsen“. Schicht um Schicht legten sich schützende Hüllen um das innere Kind und mit jeder Enttäuschung und Verletzung wurde der Panzer dicker.

Das Wort Jesu „Das Kind ist nicht tot“ löst ein starkes Echo in mir aus: Das Kind in dir, deine ursprüngliche Lebendigkeit und Spontaneität ist nicht tot. Steh auf, steh zu dir! Verleugne das Kind in dir nicht, sondern gib ihm Raum. Trau deinen Träumen und deinem Vertrauen ins Leben.

Tag 8: Pure Präsenz

Stille ist kein äußerer oder innerer Zustand. Stille ist die Fähigkeit, im Augenblick zu leben, ohne zurückzudenken oder vorauszuplanen. Ohne die Zerrissenheit zwischen dem, was ich gerade tue, und was ich meine, tun zu müssen.

Heute wurden mir solche Augenblicke purer Präsenz geschenkt: Ich bin einfach nur da, ohne Gedanken und innere Spaziergänge. Ich bin da, in meinem Körper, in meinem Atem. Ich höre auf die Stille – und das genügt.

Diese Erfahrung widersetzt sich allen Beschreibungen. Doch Friedrich Nietzsche hat recht, wenn er schreibt: „Die größten Ereignisse – das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.“

Tag 9: Was bleibt?

Es wirkt so, als ob sich in diesen Tagen der Nebel gelichtet hat, der im Alltag mein Wahrnehmen oft verschleiert. Alles tritt ein wenig klarer vor mich. Das Gute. Und das Schlechte.

Was nehme ich mit, wenn ich morgen in meinen Alltag zurückkehre? Die Erfahrung, reich beschenkt zu sein. Und dass manche meiner Schutz- und Angstpanzer im Licht der leisen Gegenwart Gottes abschmelzen konnten. Ich bin berührbarer und – so hoffe ich – etwas geduldiger und gütiger geworden. Und zwar mit mir und mit anderen. Und ich vertraue darauf, dass das Gute dieser Tage weiterwirkt.

 

Diese Tagebuchnotizen von Melanie Wolfers sind ursprünglich in der BRIGITTE  2019 (16)  veröffentlicht worden.
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